Dämonifiziert
Lesedauer:
~ 20 Minuten
Genre:
Fantasy, Dystopie, Drama, Steampunk, Abenteuer
Stimmung:
Düster, Gefährlich, Traurig, Hoffnungsvoll, Episch
Erklärung
Achtung! Bei Dämonifziert handelt es sich nicht um einen vollständigen Roman!
Ich habe die Idee entwickelt für die Abschlussarbeit eines Schreibkurses. Da ich aber recht viel Zeit in das Worldbuilding und vor allem die Charaktere investiert habe, spiele ich mit dem Gedanken, daraus irgendwann eine komplette Geschichte zu spinnen (vor allem, weil mir ein gutes Ende eingefallen ist). Was mich davon abhält, ist, dass die Prämisse ziemlich uninspiriert ist (Seuche rafft die Welt dahin, zombieartige Monster, immune Individuen etc.). Jeder Kenner wird sofort merken, wie stark ich von The Last of Us inspiriert wurde. Sollte es mir gelingen, meine Geschichte stark genug abzugrenzen, werde ich ihr in der Zukunft vielleicht doch eine Chance geben! Falls du denkst, Dämonifiziert hat Potenzial (oder eben nicht), dann lass es mich gerne in den Kommentaren wissen!
Synopsis
Die Dämmerung der Menschheit ist angebrochen ...
Die letzten menschlichen Zivilisationen des Freistaates Lubria befinden sich unter Glaskuppeln inmitten einer lebensfeindlichen Umgebung. Außerhalb der Quarantänezonen wütet ein Pilz namens Dämonenkeule. Nichts, was lebt, ist vor ihm sicher; infizierte Pflanzen werden hochgiftig, Tiere und Menschen dagegen verwandeln sich in abscheuliche Dämonen. Diese unterliegen dem Drang, alle gesunden Organismen auslöschen zu müssen. Einige Jahre nach der explosionsartigen Verbreitung der Dämonenkeule geschah noch etwas, auf das die Menschheit nicht vorbereitet war; Kinder wurden geboren mit tiefschwarzen Augen und Hörnern hinter den Schläfen - die ersten Symptome einer Dämonifizierung. Doch diese Kinder verwandeln sich nie vollständig und sind außerdem immun. Manche glauben, die Dämonenkinder wären schuld an der plötzlichen Aggressivität der Dämonenkeule. Wieder andere sehen in ihnen den Schlüssel zu einem Heilmittel.
Die Mykologin Mina Rubiner hat geschworen, einen Weg zu finden, den Pilz aufzuhalten und die Menschheit zu retten. Doch sie ist davon überzeugt, dass die Dämonenkinder unschuldig und harmlos sind, schließlich ist ihre eigene Tochter Irin ebenfalls eines von ihnen. Trotzdem wagt sie es lange nicht, sich für die Kinder einzusetzen aus Angst, Irin zu gefährden. Das ändert sich erst, als sie den verwaisten Dämonenjungen Bram bei sich aufnimmt und von seiner düsteren Vergangenheit erfährt. Von da an möchte Mina nicht nur den Menschen eine neue Zukunft schenken, sondern auch den Dämonenkindern.
Kaum erwachsen, schließen sich Irin und Bram der Mission von Mina an. Doch sowohl ihre leibliche Tochter als auch ihr Adoptivsohn weichen bald von ihrem Weg ab … Irin befürchtet, dass sie und ihre Dämonengeschwister doch etwas mit dem Untergang der Welt zu tun haben. Bram dagegen fängt an zu zweifeln, ob die Menschen es überhaupt wert sind, gerettet zu werden.
Nach all den Jahren der Dunkelheit ist Mina nach wie vor fest davon überzeugt, Lubria einen neuen Tagesanbruch erleben zu lassen. Dabei weiß sie nicht einmal, wie sie ihre Familie vor dem Zusammenbruch bewahren soll ...
Romanpitch
Sweet Tooth trifft Last of Us
Die Dämmerung der Menschheit ist angebrochen ...
Ein Pilz namens Dämonenkeule hat den einst blühenden Freistaat Lubria in ein lebensfeindliches Ödland verwandelt. Die letzten Menschen leben unter gigantischen Glaskuppeln, wo sie sicher sind vor mörderischen Dämonen sowie den Pilzsporen in der Luft, welche gesunde Organismen zu jenen Monstern werden lässt. Die Mykologin Mina Rubiner hat sich geschworen, einen Weg zu finden, um den Pilz aufzuhalten. Ihre Kinder Irin und Bram schließen sich ihrer Mission an und das, obwohl die beiden von den Menschen Lubrias verstoßen wurden, da sie infiziert, aber immun sind. Mina ist davon überzeugt, dass sie gemeinsam die Menschheit in einen neuen Tag führen können …
Buchszene
Und schon wieder wollten sie ein Kind verbrennen …
Massen strömten Richtung Kirche, als hätte man einen Eimer voller Menschen mit Schwung über die Hauptstraße gekippt. Von einer Gasse aus beobachtete Mina die vorbeiziehenden Gesichter, oder zumindest deren Augenpartie. Mehr konnte sie aufgrund deren schnabelartigen, undurchsichtigen Atemmasken nicht ausmachen. In den teilnahmslosen Augen lag nicht ein Fünkchen Grauen. Zu meiner Zeit hätte man eine Hinrichtung noch nicht wie ein Spektakel behandelt. Und schon gar nicht, wenn es um ein Kind geht, dachte Mina bitter und nahm einen tiefen Zug aus ihrer Tonpfeife. Der Tabak tauchte wieder in Form kleiner weißer Wölkchen aus ihrer Nase auf, die zugegeben auch ohne Maske wie ein Raubvogelschnabel aussah. Sie schaute hinunter auf Ander, der über einem rumpfgroßen Rucksack kniete und ihre auf dem Markt erworbenen Güter sortierte. Darunter befanden sich Reagenzgläser, Skalpelle, Munition, ein neuer Filter für die Kuppel ihres Zuhauses und getrocknete Pflaumen. Letztere waren Irins Lieblingsnascherei.
Ander spürte ihren Blick und hielt inne. „Ich weiß, Madam. Sie tun es schon wieder …“, flüsterte er ohne aufzuschauen. Seine Schultern hoben sich an und zittrig entwich ihm sein Atem.
Der Fanatismus hat diese Stadt ebenso korrumpiert wie ascomycota daemonicus. „Es ist wahrscheinlich noch nicht zu spät. Wir können das Kind retten“, erwiderte Mina und in dem Moment wurde ihr bewusst, dass ihre Entscheidung bereits getroffen war. Schreckliche Bilder tauchten in ihrem Gedächtnis auf, von einem Aschehaufen mit kleinen Knochen darin, auf dem weißen Marmorstein der Kirche der Reinheit. Die Erinnerung drehte ihr regelrecht den Magen um, wenn sie daran dachte, dass es genauso gut Irin hätte sein können.
„Aber Madam …“, setzte Ander an.
„Spar dir den Atem“, unterbrach ihn Mina, da sie sehr genau wusste, was er ihr sagen wollte. Zwei Pistolen gegen zweihundert. Eine Wissenschaftlerin, die ihre besten Jahre bereits hinter sich hatte und ein junger, unerfahrener Assistent mit einem erblindeten Auge gegen verzweifelte Fanatikern. Es gab nur einen Weg, auf dem ihr Unterfangen gelingen würde und der führte über die Vernunft. Ein Kichern stieg aus Minas Kehle, doch es war geboren aus Verzweiflung. „Ich habe mich entschieden. Du hingegen musst nicht mit mir kommen.“
Geschockt starrte Ander sie an. „Madam …“
An diesem Tag verfügte Mina über keine Geduld. „Jede Sekunde, die ich hier verschwende, könnte den Tod des Kindes bedeuten. Ander, falls ich es nicht schaffe, führe unsere Arbeit fort … und kümmere dich gut um Irin.“ Mit diesen Worten steckte sie die Pfeife zurück in ihre Taschen, zog sich eine schlichte Atemmaske übers Gesicht und verschwand in der Menge. Zwar schaltete sie die Sauerstoffzufuhr nicht ein, aber es sollte ausreichen, um die Kirchengänger nicht misstrauisch zu machen. Sie befanden sich hier in einer der letzten Bastionen der Menschheit; Hybris, die Megastadt unter der Glaskuppel. Jeder Mensch, jedes Tier und jede Pflanze, welche das einzige Tor durch das dicke Glas passierte, wurde genaustens auf Hinweise von Pilzsporen untersucht. Wer oder was infiziert war, wurde ohne zu zögern den Flammen übergeben. Faktisch gab es keinen sichereren Ort in dieser ach so verfluchten Welt. Und doch lebten die Fanatiker in panischer Angst, sich jederzeit anzustecken und in blutrünstige Dämonen zu verwandeln. Zur selben Zeit lebte Mina keine zehn Meter entfernt von einem infizierten Wald. Ohne Furcht. Schließlich gehörte ihr Herz der Wissenschaft; Neugier und Courage pumpten durch ihre Venen. Das war einer der Gründe, warum sie mit allen Mitteln versuchen musste, das unschuldige Kind zu retten, bevor es zum Opfer der Angst wurde. Denn wer würde es sonst tun? Hinrichtungen waren in Hybris offiziell verboten und trotzdem war der Bürgermeister blinder als Ander, sobald es um die Machenschaften der Kirche der Reinheit ging. Wut wucherte in Mina, wilder als ascomycota daemonicus in Lubria. Dieser Umstand und ihre hochgewachsene Statur halfen ihr, Leute links und rechts beiseitezuschieben, um schneller voranzukommen. Da sie nur nach vorne schaute, bemerkte sie nicht, ob sie die Kirchengänger erzürnte. Der schneeweiße Turm des heiligen Hauses zeichnete sich bereits gegen den grauen Himmel ab, wie ein Signalzeichen, das Rettung versprach.
„Madam! So warten Sie doch“, rief Ander ihr nach.
Ein Lächeln entstand unter Minas Maske. Ander, du treue Seele. Als sie sich umdrehte, war er nur wenige Meter hinter ihr. Sein Kopf war rot von der Anstrengung durch seine schwere Last mitsamt der atembehindernden Maske. Ein stämmiger Kerl bekam durch den Rucksack eine gescheuert, worauf er Ander prompt zu Boden stieß. Bevor jedoch Stiefel auf seinem Rücken niedergehen konnten, hatte Mina ihn erreicht und schwungvoll am Arm wieder auf die Beine gezogen.
„Hör auf, so rumzutrödeln“, meinte Mina und konnte an den Falten um seine Augen sehen, dass er lachte. Er wird ein guter Nachfolger … sofern wir diese Rettungsmission überleben.
Am Fuß der weißen Kirche hatte man eine kleine Bühne errichtet, die kein einziges brennbares Teil enthielt. Dieser Umstand ließ bereits vermuten, welchem Zweck sie diente. Die Menschen in schwarzen Gewändern sammelten sich auf dem achteckigen Platz vor ihrem heiligen Haus, die Schnäbel auf die Bühne und ihren Priester gerichtet. Erleichterung setzte ein, als Mina sah, dass sie noch immer dabei waren, Holz aufzustapeln. Das Kind war an einem metallenen Dachpfeiler festgebunden, über seinen Kopf hatte man einen Leinensack gestülpt. Es sah beinahe aus wie eine leblose Puppe, bis auf ein leichtes Zucken, wann immer ein weiteres Stück Holz fiel. Halte durch, dachte Mina und pflügte sich weiter durch die Menge, während Ander ihr an der Ferse hing. Der Priester, der vermutlich die Hinrichtung befohlen hatte, war ein hagerer Mann, seine Schnabelmaske sowie Umhang waren so schwarz wie die Augen eines Dämons. Seine Anhänger sahen aus wie perfekte Abbilder seiner selbst; die Krähenmenschen der weißen Kirche der Reinheit. Wodurch der Priester aber immer unter der Masse hervorstechen würde, war sein weißes Haar und die einnehmende Aura eines charismatischen Scharlatans. Während der Kirchenführer dem Treiben um den Scheiterhaufen mit Genugtuung zusah, wirkten seine Anhänger teilnahmslos, beinahe gelangweilt. Wahrscheinlich wollten sie, dass die Sache schnell vonstattengehen würde, sodass sie auf den Markt, in die Fabriken oder ihre Wohnungen zurückkehren konnten. Es fiel Mina schwer, ihnen gegenüber keine Abscheu zu empfinden. Doch ein Teil von ihr verstand; derjenige, der ein Mensch war und keine Wissenschaftlerin. Seit ascomycota daemonicus über die Welt hergefallen war, tat die Menschheit alles, nur für ein bisschen Sicherheit. Selbst dann, wenn diese Sicherheit nur eine Illusion war. Zwar versprach Hybris einem absolute Sicherheit, doch es bräuchte nur einen Infizierten innerhalb der Glaskuppel, um die ganze Stadt dem Untergang zu weihen. Alle wussten sie das, auch wenn die Mehrheit es nicht wagten, bewusst darüber nachzudenken. Um der Angst Herr zu werden, griffen sie auf solche Rituale zurück. Aber Mina war sich sicher, sie könnten so viele Kinder töten, wie sie wollten, damit würden sie den Pilz nicht aufhalten. Hoffentlich würden sie ihr zuhören. Müsste sie hilflos zusehen, wie ein unschuldiges Kind einen qualvollen Tod starb, so wäre ihr Leben verwirkt. Als der Priester den Arbeitern mit einer Handbewegung vermittelte, dass der Stapel nun groß genug war, begann Minas Herz wild zu schlagen. Nein!
„Was sollen wir tun?“, fragte Ander panisch. Sie waren noch nicht ansatzweise in der Nähe der Bühne.
„Liebe Kinder der Reinheit …“ Die Stimme des Priesters hallte mithilfe eines Mikrofones über den Platz. Augenblick verstummte jedes Murmeln, wobei es zuvor ohnehin nur wenige Gespräche gegeben hatte. „Schon seit fast zwei Jahrzehnten leben wir unter der Tyrannei der Dämonen. Doch dies wird nun bald ein Ende haben.“ Ein weiterer Krähenmann erschien hinter ihm, in seiner Hand hielt er eine Fackel. „Erinnert euch daran, dass die Dämonenkeule friedlich mit uns koexistiert hat für Jahrhunderte. Bis sie aufgetaucht sind!“ Der Priester deutete mit seinem langen knochigen Zeigefinger auf das Kind auf dem Scheiterhaufen.
Aus einem Impuls heraus quetschte sich Mina durch zum nächsten Pfeiler. Sie griff nach der untersten metallenen Rippe mit der Absicht, sich daran hochzuziehen. Vor zehn Jahren wäre ihr das vielleicht noch ohne Hilfe gelungen und jetzt hatte sie Ander, der eine Räuberleiter für sie bildete. Als Mina sich ein gutes Stück über der Menge befand, zückte sie ihre Pistole mit der freien Hand.
„Wenn wir sie alle vernichten, werden wir die Dämonenkeule besänftigen …“ Der Priester wurde von einem lauten Knall unterbrochen. Die Menge schnappte erschrocken nach Luft, das Kind hob den Kopf.
Bevor ihnen klar wurde, dass niemand erschossen worden war, nutze Mina den Augenblick der Schockstarre: „Herr Priester!“ Sie hatte so laut geschrien wie möglich mit der Maske.
Er erblickte sie auf dem Pfeiler. Sein Blick war irritiert. „Eine interessante Art, eine Audienz bei mir zu erfragen“, meinte der Krähenführer. Einige Leute lachten schüchtern über diese Aussage.
„Herr Priester!“, schrie Mina noch einmal. „Sie begehen einen großen Fehler!“
Für einen Augenblick schien der Angesprochene unsicher. Dann drehte er sich zu den beiden um, die vorher das Holz herangeschafft hatten und deutete mit dem Kinn in Minas Richtung. Sofort sprangen sie hinunter in die Menge, woraufhin die Menschen ihnen Platz machten. „Vielleicht werden heute ja zwei Hinrichtungen stattfinden, wer weiß.“
Ohne Widerstand ließ Mina sich von den Krähenmännern jeweils an einem Arm zur Bühne eskortieren. Ander folgte ihnen, ehe sich die Passage wieder schloss. Als sie an dem Scheiterhaufen vorbeigeschoben wurde, wünschte sich Mina, sie hätte dem Kind zuflüstern können, dass alles gut werden würde. Doch sie durfte vor diesen Leuten keinen falschen Schritt machen.
„Wenn ich das richtig verstehe, wollen Sie nicht, dass wir diese Kreatur töten?“, erkundigte sich der Priester und reichte ihr das Mikrofon, als wären sie auf einer Podiumsdiskussion.
Mina war schon zu Ohren gekommen, dass der Priester der Kirche der Reinheit ein komischer Kauz war. Manchmal war er auf dem Markplatz zu sehen, wo er sich auf eine Kiste stellte und wie ein zweitklassiger Prediger davon schwafelte, dass der Pilz sich von der Verderbtheit der Menschen nährte und nur die Flammen sie reinwaschen konnten. „Korrekt. Es wäre ein Fehler. Mein Name ist Mina Rubiner, ich bin Mykologin und …“ Sie zögerte für einen Moment. Nichts würde sie lieber tun, als diesen Leuten zu erklären, dass die Kinder nicht im Geringsten ansteckend waren und auch nichts mit der explosionsartigen Verbreitung von ascomycota daemonicus zu tun hatten. Wie sollte das auch möglich sein, nachdem die ersten von ihnen erst Jahre nach dem Ausbruch geboren worden waren?
„Und was?“, fragte der Priester. Ein bösartiges Grinsen lauerte unter seiner Maske. Im Gegensatz zu dem meisten Anwesenden hier, schien es ihm wohl Spaß zu bereiten, jemanden lebendig verbrennen zu sehen. Und mit ihr und Ander hätte er wohl den dreifachen Spaß zum Preis von einem.
„Ich arbeite an einem Heilmittel gegen ascomycota daemonicus, der Dämonenkeule.“ Den Namen verdankt der Pilz seiner keulenartigen Form und den Stacheln an seiner Spitze, wie kleine Dämonenhörner. Und natürlich seiner Eigenschaft, jeden, der mit seinen Sporen in Berührung kommt, in ein mörderisches Monster zu verwandeln. Wann immer sie von Pilzen sprach, schlug ihr Verstand das Lexikon auf. Doch Mina musste niemandem mehr über ascomycota daemonicus aufklären. Diesen speziellen Pilz kannten die Leute nur zu gut.
Der Priester lachte freudlos auf. „Habt ihr das gehört? Wieder eine Wissenschaftlerin, die uns ein Heilmittel verspricht.“
Ander riss das Mikrofon an sich. „Es ist wahr! Ich habe ihre Arbeit mit eigenen Augen gesehen. Wenn es jemand schafft, die Menschheit zu retten, dann sie.“
Zutiefst gerührt sah Mina ihren Assistenten an. Natürlich könnte es sein, dass er nur versuchte, ein überzeugendes Schauspiel hinzulegen. Doch in seinen Augen lag ein solches Feuer, dass sie glaubte, er würde es tatsächlich ernst meinen. Die Menschen fingen an, miteinander zu flüstern. Hoffnung war etwas, das man sich in dieser Welt nicht wirklich leisten konnte. Obwohl auch Fanatiker wie der Priester versprachen, dass die Massenvernichtung dämonifzierter Kinder dem Pilz ein Ende bereiten würden, glaubten die meisten nach zwei Jahrzehnten nicht mehr wirklich daran. Zumindest nicht mit ganzem Herzen.
„Sie müssen nicht vollstes Vertrauen in mich legen“, sprach Mina weiter. „Doch dieses Kind zu verbrennen, wäre, als würde man Teile eines Puzzles verbrennen, bevor man das große Ganze gesehen hat. Eine Verschwendung wertvoller Ressourcen. Überlasst es mir, als Testobjekt. Und vielleicht komme ich so einem Heilmittel näher.“ Es tut mir leid …Vermutlich hatte die kleine, gefesselte Gestalt gerade angefangen zu hoffen, gerettet zu werden und jetzt sah es so aus, als würde sie nur von einem kochenden Topf in den nächsten springen. Leider war diese Scharade der einzige Weg. Angespannt wartete Mina auf die Antwort des Priesters, der sich nachdenklich am Ohr zupfte. Hinter den Ohrmuscheln war seine Haut rötlich und aufgescheuert, was sehr wahrscheinlich mit dem Fakt zusammenhing, dass er nie ohne Maske das Haus verließ. Vielleicht behielt er sie sogar dort an. Ander gab sich Mühe, gefasst auszusehen, doch Mina konnte die Schweißperlen an seiner Stirn zählen. Sie konnte sich gut vorstellen, dass sie eine ähnliche Figur abgab.
„Dann glauben Sie also, dass man die Immunität der kleinen Biester auf uns Menschen übertragen kann?“, erkundigte sich der Priester.
Auf uns Menschen. Irin war ein Mensch. Und das Kind auf dem Scheiterhaufen ebenfalls. Mina musste ihre Wut runterschlucken. „Ja. Und zwar nicht wie manche Betrüger auf dem Schwarzmarkt es einem weismachen. Ein Pulver aus ihren Hörnern ist in etwa so nützlich wie eines aus meinen Zehennägeln. Doch in ihrer DNS könnte der Schlüssel zu finden sein für eine effektive Waffe gegen die Dämonenkeule.“ Mit Erleichterung stellte Mina fest, dass die Krähenmenschen ihr scheinbar aufmerksam zu hörten. „Denkt nur an eine Zukunft, in der wir wieder unter freiem Himmel leben können, ohne einer Glaskuppel dazwischen“, ergänzte sie, um stärker auf die Emotionen der Menschen anzuspielen.
„Meine Kinder der Reinheit, muss ich meinen getreuen Freunden etwa sagen, dass sie den Scheiterhaufen umsonst aufgetürmt haben?“ Der Priester kicherte, doch es klang etwas unsicher.
„Verbrennt die Hexe mit dem Dämon zusammen!“, schrie eine Frauenstimme, bei der Mina die Herkunft nicht ausmachen konnte. Wenigstens fiel die Welle der Zustimmung, welche durch die Menge glitt, eher mickrig aus.
„Ich glaube, sie wollen Feuer …“, meinte der Priester beinahe entschuldigend, doch Mina packte sein Handgelenk und verfestigte ihren Griff so sehr, dass der Mann es spüren musste. Er wehrte sich nicht, vielleicht aus Schock, vielleicht aber auch aus Respekt.
„Herr Priester“, sagte Mina eindringlich, nachdem sie das Mikrofon, immer noch in der Hand des Priesters, an ihr Kinn hob. „Sie können mich, meinen Assistenten und das Kind verbrennen. Aber es gibt noch hunderte weitere Dämonenkinder, weit außerhalb dieser Kuppel, irgendwo in der versuchten Wildnis. Wenn es Ihnen wirklich darum geht, ihre Gemeinde oder gar die ganze Welt zu retten, dann lassen Sie mich meine Arbeit ausführen. Sie haben nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen. Wenn dieses Kind stirbt, kann es umsonst gewesen sein, oder für ein Heilmittel.“ Bevor sie die Hand des Priesters losließ, fügte sie noch ein kurzes: „Danke für Ihre Aufmerksamkeit“ hinzu.
Der Krähenführer rieb sich sein Handgelenk. „Schön. Gnädige Madam, nehmen Sie ihn mit. Die Kirche der Reinheit war immer ein Freund der Wissenschaft. Denn es ist die Wissenschaft, die Licht in die Dunkelheit bringt.“
Ander atmete lange, aber lautlos aus und schloss für ein paar Sekunden die Augen, als würde er ein kurzes Stoßgebet in dem Himmel senden. Bestimmt nicht an den Gott der Reinheit. Nie in ihrem Leben hätte Mina erwartet, solche Worte aus dem Mund eines Fanatikers zu hören. Genau genommen war die weiße Krähenkirche für alles andere als ihre Nähe zu Fakten und Tatsachen bekannt.
„Gnädige Madam. Sie könnten eine Betrügerin sein. Aber das bezweifle ich sehr, denn wer würde sein Leben riskieren, nur für Profit. Ich kann in Ihren Augen sehen, dass sie es ernst meinen mit dem Heilmittel. Trotzdem wären sie wahrscheinlich in meinem Fall auf taube Ohren gestoßen, wenn nicht heute Morgen beim Frühstück meine kleine Tochter zu mir gesagt hätte, dass sie ihr Leben hasst und endlich draußen in Freiheit leben will.“ Hier machte der Priester eine Pause. Seine Augen wirkten traurig und in sich gekehrt. „So abscheulich diese dämonifzierten Kinder sind, vielleicht können wir ihnen tatsächlich ihre Immunität entreißen. Damit wir endlich wieder freie Menschen sein können.“
Gemurmel machte sich in der Menge bemerkbar. Mina fragte sich, ob der Priester im Schnitt gerade mehr Respekt verloren oder gewonnen hatte. Die Masken zeigten wenig an Gesichtsausdrücken.
„Macht die Kreatur los“, befahl der Priester den beiden Krähenmännern, die den Scheiterhaufen gebaut hatten. Der dritte, der mit ihnen auf der Bühne stand, steckte die Fackel zurück in eine Halterung an der Kirchenwand.
Ander befreite sich von den gigantischen Rucksack, den Mina ihm sofort abnahm. Als die Krähenmänner den Jungen herbrachten, nach wie vor verschnürt wie ein Paket, warf Ander ihn sich über die Schulter, ebenfalls wie ein Paket. Er ächzte leise unter dessen Gewicht. Seiner Größe nach zu urteilen war der Junge wahrscheinlich ungefähr zehn Jahre alt. Auch wenn es praktisch war, dass er sich nicht gegen Ander wehrte, machte es Mina traurig. Der Kleine musste inzwischen komplett resigniert haben.
„Sie haben die richtige Entscheidung getroffen“, Mina reichte dem Priester die Hand und er schüttelte sie.
Zu ihrer Überraschung zog er sich als nächstes die Maske vom Gesicht. Er war noch nicht so alt wie sie selbst und hatte trotzdem mehr Falten. Seine gelblich-grünen Augen loderten fanatisch. „Madam, vergessen Sie Priester Erk nicht. Denn er wird Sie auch nicht vergessen …“ Beide seine spinnenartigen Hände umschlossen die ihre. Sein Lächeln hatte eine gewisse Gier in sich. Als würde er sich denken, er habe gerade einen für ihn besonders vorteilhaften Handel abgeschlossen.
„Wenn ich ein Heilmittel entwickelt habe, können Sie sich darauf verlassen, dass ich nach Hybris zurückkehren werde.“
„Oh, ich bin mir sicher, dass wir uns wiedersehen werden …“
Wenn es einen Gott gibt, dann nicht. Obwohl Erks Anblick in Mina Ekel auslöste, zwang sie sich dazu, sein Lächeln zu erwidern. Für ihren Geschmack dauerte es viel zu lange, bis er endlich ihre Hände losließ. Mit so viel Würde, wie sie es zustande brachte, stieg sie hinter Ander die Treppe von der Bühne hinunter. Der Platz der Reinheit war bedrohlich still.
„Lassen Sie die Hexe nicht gehen!“ Es war dieselbe Stimme von vorher. Dieses Mal stiegen mehrere Krähen in das Gekrächze mit ein.
Mina fühlte sich mehr als unbehaglich, als sie von den Augen der Kirchengänger durchbohrt wurde. Sie hatte das Gefühl, irgendwer würde sie sofort packen und auf den Scheiterhaufen zerren, der nach einem neuen Opfer verlangte.
„Im Namen der Kirche der Reinheit sage ich, dass wir sie ziehen lassen“, hörte sie Erk verkünden. Sie drehte sich nicht nach ihm um. Sowohl ihre als auch Anders Schritte schienen schneller zu werden, und das trotz der Last auf ihren Schultern. „Wie ich meine eifrige Gemeinde kenne, werden wir bald ein weiteres verfluchtes Kind finden, um es dem Reinen zu opfern …“ Sein wahnsinniges Lachen bildete, verstärkt durch das Mikrofon, ein unheilvolles Echo in den Gassen von Hybris. Von nun an muss ich vorsichtig sein, wenn ich wieder einen Fuß in diese verdammte Stadt setzte …
„Okay, ab jetzt müssten wir sicher sein“, sagte Mina, die über ihre Schulter die Entfernung zu Hybris prüfte. Niemand kann uns von hier aus mehr sehen. Sie ließ die Zügel ihres Ochsen Riese los, das Tier kannte den Weg nach Hause ohnehin. Dann kletterte sie vom Kutschbock nach hinten in den Ladebereich des Fuhrwerks, das mit einem gläsernen Dach überzogen war. Wenn sie länger außerhalb der Kuppeln unterwegs waren, bevorzugten sie das Fuhrwerk, sodass sie nicht stundenlang ihre Atemmasken tragen mussten. Bevor Mina es aussprechen konnte, machte Ander sich schon daran, den Jungen von seinem Leinensack zu befreien. Sofort wurde klar, warum er sich nicht gewehrt und generell kaum bewegt hatte; ihm war eine flache Atemmaske umgelegt worden, vermutlich aus Angst vor Ansteckung. Die ganze Zeit über hatte er kaum Luft bekommen …
„Hallo“, Ander hob die Hand, als hätten sie sich gerade erst getroffen. „Hab keine Angst, es wird keine Experimente geben. Die Madam musste das nur sagen, damit wir dich da rausholen konnten.“ Demonstrativ zückte er das Klappmesser aus seinem Gürtel und schnitt die Fesseln an Hand- und Fußgelenken des Jungen durch.
Sofort nutzte der die Freiheit seiner Hände, um sich die Maske vom Gesicht zu reißen und sie mit Wucht von sich zu schmeißen. Kurz darauf lehnte er sich an der Wand an mit geschlossenen Augen und holte sich ein paar tiefe Atemzüge, wie jemand, der eben fast ertrunken wäre.
„Das fühlt sich jetzt bestimmt viel besser an“, meinte Ander mitfühlend.
Nach ungefähr einer halben Minute öffnete der Junge die Augen wieder und starrte, an Ander vorbei, Mina direkt an. Er sah aus wie ein normales Kind. Zumindest fast … Hinter seinen Schläfen ragten Hörner aus dem schwarzen Haar hervor, das linke war in etwa so lang wie Minas Zeigefinger, dem rechten fehlte gut ein Drittel. Das war bestimmt kein Unfall. Die Augen des Jungen waren tiefschwarz, als hätte jemand der Iris die Farbe entzogen, mit Ausnahme eines violetten Rings um die Pupille, die exakte Farbe der kleinen Stacheln an ascomycota daemonicus. Diese beiden Merkmale waren für manche Rechtfertigung genug, ihn auf einem Scheiterhaufen verbrennen zu wollen. Ware … Das war der letzte Stich, den Mina ihm hatte zufügen müssen. Sie hatte ihn als Ware bezeichnet, um die Erlaubnis zu erhalten, ihn aus Hybris zu schaffen. Genauso wie Hinrichtungen war es auch verboten, mit den Kindern wie mit Besitztümern zu handeln. Und doch geschah es so häufig, als gäbe es in Hybris keine Gesetze, sondern nur Verhaltensempfehlungen. Die Kinder haben niemanden, der sich für sie einsetzt. Wut, Trauer und tiefe Betroffenheit war es, was Mina empfand, während sie den Blick des kleinen Menschen standhielt.
„Mein Name ist Ander. Und die Dame da ist die Madam Mina. Wie heißt du?“ Ander bekam nicht mehr Aufmerksamkeit als einen flüchtigen Seitenblick.
Dann sah der Junge wieder Mina an. „Es tut mir leid, dass wir diese Scharade aufführen mussten. Ich bin zwar Wissenschaftlerin, aber ich würde niemals Experimente an Lebensformen außerhalb von Pilzen durchführen“, schwor sie mit der Hand auf dem Herzen.
„Das heißt, du bist jetzt in Sicherheit“, ergänzte Ander. Zum ersten Mal nahm der Junge richtig Augenkontakt mit ihm auf. „Niemand kann dir mehr etwas tun.“ Statt etwas zu sagen oder irgendeine Regung von Emotionen zu zeigen, blinzelte der Kleine nur erschöpft. Vielleicht weigerte er sich, mit ihnen zu reden oder aber, er war einfach nicht in der Verfassung dazu.
„Geben wir ihm etwas Wasser und Obst und lassen ihn für eine Weile schlafen.“
Als Ander ihm eine metallene Trinkflasche reichte, betrachtete er sie, nahm sie aber nicht entgegen. „Bist du nicht durstig?“, fragte Ander überrascht.
„Nimm du zuerst einen Schluck“, riet ihm Mina.
„Wieso?“, wollte Ander wissen. Aber er begriff sofort und verleibte sich einen ordentlichen Schluck ein. „Siehst du? Es ist nicht vergiftet.“
Erst jetzt ergriff der Junge die Flasche und trank den Durst weg, der bestimmt höllisch gewesen sein musste. Mina konnte sich kaum vorstellen, dass sie ihn in den letzten Stunden von der Maske befreit hatten, um ihm Wasser geben zu geben. Als Ander einen Beutel mit Trockenobst öffnete, zögerte der Kleine nicht mehr. Kaum ein Erwachsener konnte bei Hunger und Durst die Selbstbeherrschung bewahren, Kinder schon gar nicht. Spontan entschied sich Mina dazu, wieder ihren Platz hinter den Zügeln von Riese einzunehmen.
„Wenn du schlafen willst, kann ich dir leider nichts Besseres als meinen Mantel anbieten“, hörte sie Ander sagen, der das Kleidungsstück vermutlich auf dem Boden ausbreitete.
Dann gesellte Ander sich zu ihr nach vorne. „Ich denke, du hast recht, dass wir ihn erstmal in Ruhe lassen sollte.“ Nach einer kurzen Pause flüsterte er: „Der Kleine vertraut uns nicht.“
Mina lachte kurz auf. „Kein Stück.“ Wer kann es ihm verübeln?
„Hauptsache, er ist jetzt in Sicherheit.“ Wenig überrascht bemerkte Mina, dass Ander Tränen in die Augen stiegen. Er war mindestens so emotional wie rational. Als wäre es ihm peinlich, wischte er sich mit dem Zeigefingerknöchel die überschüssige Flüssigkeit weg. „Ich kann’s kaum glauben … wir haben gerade tatsächlich einen Haufen Fanatiker davon überzeugt, ein Dämonenkind gehen zu lassen. Wir … ich meine natürlich, Sie haben es geschafft …“
„Wir“, korrigierte Mina sanft. „In dieser Nacht haben wir ein Leben gerettet, Ander.“ Das reichte aus, um zumindest eine Freudenträne durch seinen Damm brechen zu lassen. Mina fühlte ebenfalls eine Euphorie in ihr aufsteigen. Ähnlich wie die Sonne, deren erste Strahlen sie gerade am Horizont begrüßten. Die Landschaft, die vor ihnen lag, war ein Jammertal; das Gras schwarz und doch nicht verbrannt, die Bäume verkrüppelt und voller giftiger Früchte. Und trotzdem konnte sie dem Anblick in diesem Moment etwas Schönes abgewinnen.
„Heute Morgen sieht die Welt etwas weniger düster aus, oder Madam?“
Mina nickte. Etwas Tabak zum Feiern wäre jetzt schön. Aber natürlich ging das nicht in der kleinen Glaskuppel ihres Wagens. „Mein lieber Ander, vielleicht sind wir doch noch nicht verloren.“