Riley vs Aliens


Lesedauer:

~ 40 Minuten

Genre:

Science Fiction, Fantasy, Courtroom, Drama, Comedy

Stimmung:

Emotional, Komisch, Hoffnungsvoll, Reflektierend, Traurig


Plot:

Es ist soweit … die Menschheit soll offiziell für ausgestorben erklärt werden. Wenn da nicht Riley wäre, der wahrscheinlich letzte lebende Mensch im Universum. Er zieht die hochentwickelte Alienspezies der Wächter vor Gericht, da diese in der Lage wären, eine neue Generation von Menschen heranzuzüchten. Dafür muss Riley sie aber davon überzeugen, dass seine Spezies eine zweite Chance verdient hat. Leider gibt es ein Problem. Der letzte Verteidiger der Menschheit … er ist nur ein normaler Typ.



1. Der Fall Homo Sapiens

“Homo Sapiens, - oder Menschen, wie sie sich im gängigen Sprachgebrauch nennen - die sind ein kurioser Fall. Ihre Geschichte zeugt von großem Erfolg wie von großer Niederlage, parallel wie sequenziell, wohlgemerkt. Auf ihrem Ursprungsplaneten brauchten sie nur wenige tausende Jahre, um zur vorherrschenden Spezies aufzusteigen. Ihre Wortsprache ist durchaus komplex und bestens dafür geeignet, um Ideen untereinander zu verbreiten, wie etwa die Idee, dass ihre Spezies gewisse Anrechte besitzt, begründet alleine auf der Grundlage, dass sie als Homo Sapiens geboren sind. Genau da liegt auch der Untergang der Menschheit begraben. Meine verehrten Anwesenden, Sie müssen verstehen, dass die Menschen eine gespaltene Existenz geführt haben. Diese Formulierung stammt von Kumpel, dem führenden Forscher auf dem Gebiet der Anthropologie.

Es ist, als würde ihr Gehirn – welches zu 24 % mit unserem eigenen übereinstimmt – zwei Persönlichkeiten in sich tragen. Die eine ist formbar, anpassbar und dynamisch. Doch die andere – sie ist ein Überbleibsel aus dem frühen Entwicklungsstadiums des Homo Sapiens – ist unformbar, rigide und statisch. Nicht viele Zivilisationen im Universum erinnern sich an die Menschen und wenn sie es tun, dann erinnern sie sich an ihre wahrscheinlich größte Tragödie; die Zerstörung ihrer Heimat. Heute ist ihr Ursprungsplanet – von ihnen als Erde bezeichnet – voller Leben, doch die Bedingungen sind unerträglich geworden für die Menschen selbst. Ironischerweise war dies ihr eigener Verdienst; sie haben ihrem Planeten zu viel, zu schnell, zu leichtsinnig genommen. Das wahre Dilemma der Menschheit ist aber, dass sie sich dessen bewusst waren, lange bevor es zu spät war. Die zwei Persönlichkeiten des Homo Sapiens waren hier am Werk. Die eine wusste, dass sie einen anderen Weg einschlagen müssen, doch die andere weigerte sich, Energie und Ressourcen darin zu investieren. Wir alle wissen, welche Persönlichkeit obsiegt hat.

Obwohl viele anthropologische Experten das Ende der Menschheit bereits hier verzeichnen, machten sie es noch ein paar Jahrhunderte, verstreut über die Galaxien. Da lange Zeit kein Exemplar mehr gesichtet wurde, ging man davon aus, dass die Menschheit von der Bildfläche verschwunden war. Zu unserer großen Überraschung konnten wir jedoch lernen, dass eine kleinere Gruppe von ungefähr 15.000 Individuen auf einem Raumschiff von der Größe eines Zwergplaneten überlebt hat. Zumindest bis vor Kurzem. Wir fanden das Wrack des Schiffes auf einem unserer Monde. Investigationen konnten zeigen, dass das Navigationssystem durch einen Asteroiden stark beschädigt wurde. Wahrscheinlich war das die Ursache für die Kollision mit dem Mond. Wir hatten beabsichtigt, die Spezies Homo Sapiens offiziell als ausgestorben zu erklären, doch dieses Individuum hier vor uns - wahrscheinlich der letzte lebende Mensch des Universums - hat unsere Entscheidung angefochten. Bei ihm handelt es sich um ein männliches Exemplar, 25 Jahre alt, was für Menschen ein junges Erwachsenalter darstellt, mit dem Namen Riley Sinclair. Ich möchte sie darauf hinweisen, dass >Sinclair< ein sogenannter Familienname ist. In ihrer Spezies ist es nicht nur üblich, einen Vornamen zur individuellen Identifikation zu geben, sondern auch einen weiteren, den Nach- oder Familiennamen, zur Erkennung der Sippenzugehörigkeit. Riley Sinclair hier ist der Auffassung, es wäre unsere moralische Pflicht, seine Spezies zurück ins Leben zu rufen. Auf dem Schiffswrack konnten wir genug DNS bergen, sodass wir theoretisch in der Lage dazu wären. Wir wurden heute einberufen, um diese Option abzuwägen. Sollten wir der Menschheit eine neue Chance geben oder ihre Ära endgültig für beendet erklären? Nun möchte ich das Wort an Riley Sinclair übergeben, der seinen Fall vortragen wird.“

„Ich weiß, Worte sind eigentlich nicht euer Ding. Aber das war trotzdem eine ätzend-lange Einleitung!“


2. Okarina

Die Augen des Ältesten starrten ihn ungerührt an. Riley zog an seiner Krawatte, um etwas mehr Raum zwischen ihr und seinem Hals zu schaffen. Vor ihm ragte eine marmorartige Tribüne so weit nach oben, dass er ihr Ende in der riesigen Halle nicht mehr ausmachen konnte. Hell erleuchtet durch sanfte, künstliche Lichter, auf feingeschliffenen Stufen, saßen sie; Tausende von ihnen. Ihre Gestalt erinnerte Riley an ein übergroßes Schnabeltier auf zwei Beinen. Mit fledermausartigen Ohren. Wächter hatte er sie in seinem Kopf getauft. Denn, wenn er Kumpel glauben sollte, hatten sie keine richtige Bezeichnung für ihre Spezies, so würde ihre Gesangssprache nicht funktionieren. Als Riley darauf beharrt hatte, dass sie doch irgendeinen Namen haben mussten, hatte Kumpel >diejenigen, die singen, forschen und wachen< vorgeschlagen. Wahrscheinlich ging dieser Ausdruck gesungen schneller von der Zunge als gesprochen. Und diesem fremdartigen, irgendwie weltentrückten Wesen musste Riley nun weismachen, warum sie die Menschen zurückbringen sollten. Genau die Menschen, die ihren eigenen Planeten zerstört hatten. Das Schlimmste an seiner Lage war aber, dass es keine Rolle spielte, was er sagen würde, die Reaktionen der Wächter würden immer gleich ausfallen. Er könnte die Mondscheinsonate auf dem Klavier mit verbundenen Augen ohne den kleinsten Fehler vortragen und sie würden ihn anglotzen wie Fische im Weltraum. Und Riley hatte noch nie in seinem Leben ein Klavier gesehen. Oder Fische im Weltraum. Diese Alienspezies (genaugenommen ist Riley in dieser Situation das Alien, schließlich befindet er sich auf ihrem Planeten!) verfügte nicht über die nötigen Gesichtsmuskeln, sodass man vergeblich nach Anzeichen von Emotionen suchte. Das war einer der vielen Gründe, warum die Wächter Riley nervös machten. Die Schnäbel voller Löcher wie eine Okarina oder ihre solarenergieabsorbierenden Flügel waren weitere. Wenigstens war Kumpel ein freundlicher Anblick. Nicht, weil er wirklich freundlich aussah, sondern, weil Riley sich mittlerweile an seinen Mitbewohner gewöhnt hatte. Außerdem war der nicht-menschliche Anthropologe auf seiner Seite, was ihn quasi zum Rechtsanwalt der Menschheit machte. Und der Älteste war wohl der Staatsanwalt. Passenderweise teilten sich Riley und Kumpel ein rundes, in sich geschlossenes Pult, während der Älteste zwischen ihnen und den versammelten Wächtern, die wohl die Geschworenen darstellten, auf und ab marschierte. Die Halle war in der Form eines abgerundeten Dreiecks errichtet worden, wobei das breitere Ende die Tribüne enthielt und sie sich anschließend bis zur Spitze mit Rileys Pult verdünnte.

„Nun?“

Der Älteste riss Riley aus seinen Gedanken. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er länger nichts mehr gesagt hatte. Er räusperte sich, aber es ging in ein Husten über. Die Krawatte schien einen Willen entwickelt zu haben und der war es, Riley zu erwürgen. Warum hatte er sich überhaupt in einen Anzug geschmissen, wenn die Wächter ohnehin den lieben langen Tag nackt durch die Gegend stolzierten?

„Ich denke, er ist nur nervös“, mutmaßte Kumpel an seiner Seite.

„Ich bin nicht nervös“, maulte Riley ihn an, wie ein bockiges Kind.

„Nimm dir ruhig einen Moment, um dich zu sammeln, Riley Sinclair“, sagte der Älteste. Mitfühlend? Spöttisch? Neutral? Mit diesem Pokerface wären die Wächter unschlagbar beim Kartenspielen …

Heute hatte Riley den Ältesten zum ersten Mal getroffen und er hatte nicht die leiseste Ahnung, ob der Kerl (eigentlich handelte es sich bei allen Wächtern um geschlechtslose Wesen, aber Riley fiel es schwer, außerhalb eines binären Geschlechtssystems zu denken) ihn leiden konnte oder nicht. Aus einem Impuls heraus duckte er sich unter dem Pult. Kumpel reckte seinen langen Hals, wohl um zu sehen, was er da trieb. Riley gab sich selbst eine heftige Schelle gegen die Wange, die bestimmt einen Abdruck hinterlassen hatte.

„War das ein menschliches Ritual?“, wollte Kumpel wissen.

„Exakt. Ohne mein Ritual kann ich nicht sprechen“, erfand Riley. Er wollte gar nicht wissen, wie viele wissenschaftliche Erkenntnisse über seine Spezies er über den Haufen geworfen hatte mit seinen Spontanlügen. Einmal noch nahm er einen tiefen Atemzug und schob sich die Haare aus dem Gesicht. „Ich bin bereit, um meinen Fall darzulegen.“

 


3. Pfeif mir das Lied vom Untergang der Menschheit

„Du übersetzt für mich, Kumpel?“

„Jedes Wort. Du musst dich nicht zurückhalten. Denk dran, dass unsere Sprache viel schneller ist als eure.“

„Erstmal möchte ich euch allen für euer Kommen danken.“ Sofort fing das Pfeifen an, das durch Kumpels Schnabel erzeugt wurde. Die Töne hörten sich für Rileys menschliches Gehör an wie eine konstante Frequenz, obwohl sie in Wahrheit zig Nuancen enthielten. Kumpel hatte den Gesang seiner Spezies als wunderschöne Melodie beschrieben, bestens dazu in der Lage, Milliarden von Sachverhalten zu differenzieren. Aber für Riley war es, als hätte er einen Tinnitus entwickelt, sobald einer der Wächter mit seinem Gepfeife anfing. Stimmten gleich mehrere Wächter ein Liedchen an, schwoll der Schmerz zu einer ausgewachsenen Migräne heran. Er freute sich schon darauf, dass ihm bald der Schädel explodieren würde.

„Was der Älteste gesagt hat, ist alles wahr, so weit ich weiß. Als Kind klang die Erde immer wie ein verdammtes Paradies für mich. Natürlich, vor der ganzen Sache mit den Umweltkatastrophen, der Nahrungsknappheit und den Bürgerkriegen. Von der knusprigen Temperatur ganz zu schweigen … Eine Zeit lang hatten meine Vorfahren alles. Vermutlich sind sie die glücklichsten Schweine innerhalb der Geschichte. Vor ihnen ging es uns nicht gut und nach ihnen ging es uns noch weniger gut, wegen ihnen. Diese Leute hatten Häuser.“ Wann immer Riley an Häuser dachte, zog ein Grinsen seine Mundwinkel hoch. Vermutlich, weil sein Verstand nicht dazu in der Lage war, sich vorzustellen, wie das war, wenn man mehrere Räume und einen Garten sein Eigen nennen konnte. Für einen Moment sah er Kumpel an, dessen überdimensionalen Fledermausohren leicht zuckten (Riley interpretierte das Zucken gerne als Gefühlsregung, wobei es auch rein zufällig sein könnte), während er vermutlich allen Anwesenden voller Begeisterung das Konzept eines Hauses näherbrachte. Dem nicht-menschlichen Anthropologen brauchte er kaum was über die Erde und die Menschen zu erklären.

„Sie hatten Kaffee.“ Noch etwas, von dem Rileys Verstand nie müde wurde, sich vorzustellen, wie eine Tasse frischer Kaffee wohl roch, wie der erste Tropfen auf der Zunge schmeckte. „Ich habe selbst nie welchen gehabt, auf Nexus Prime war es unmöglich, welchen anzupflanzen. Aber die Menschen auf der Erde haben darauf geschworen, viele meinten, ohne Kaffee müssten sie gar nicht erst bei ihrer Arbeit auftauchten. Also, die Menschen auf der Erde, sie gingen aus ihrer Haustür hinaus, stiegen in ihren Wagen, in ihren höchstpersönlich eigenen Wagen. Und damit fuhren sie zum nächsten Starbucks, um sich einen Kaffee zu besorgen. Da kamen am Ende ganz schön viele Starbucks-Becher bei raus. Und die ganzen Autoabgase. Man hat uns gesagt, sie waren frei, alles zu tun, was sie wollten. Genau das haben sie auch getan. Es gibt da diesen Spruch, wenn man in den Wald hineinschreit, schaut der Abgrund auch in einen hinein.“ Riley hatte den Eindruck, dass irgendwas nicht ganz stimmte, aber er konnte nicht sagen, was. „Also, die Menschheit hat ihren Eigenwagen in den Abgrund hineingefahren und ihren Starbucks-Kaffee verschüttet.“

 


4. Der beste Müllsortierer im Universum

Riley ertappte sich dabei, Blödsinn zu schwafeln, aber schlimmer war, dass die Wächter ihn anstarrten, als wüssten sie, dass er Blödsinn schwafelte.

„Was ist ein Starbucks?“, fragte der Älteste. Verwirrt? Interessiert? Gelangweilt?

„Die haben auf der Erde den Kaffee gemacht“, antwortete Riley. Wieder schob er Mittel- und Zeigefinger zwischen Hals und Krawatte.

„Steht die Menge an Starbucks-Bechern in einem kausalen Zusammenhang mit dem Niedergang der menschlichen Zivilisation?“

„Ja … ich meine nein. Ehrlichgesagt habe ich keine Ahnung. Das war auch mehr gemeint als eine …“

„Anekdote!“, rief Kumpel, seine Ohrenspitzen hüpften. „Und am Ende hatten wir ein schönes Beispiel für eine Metapher. Faszinierend, ihr Menschen. Immer wollt ihr eine Geschichte erzählen.“

„Ja, kann sein. Ich bin bei meiner noch nicht am Ende angekommen. Wisst ihr, seit ich klein war, bin ich so voller Wut. Und das auf Menschen, die schon lange tot sind. Ich hätte im Paradies geboren werden können, wenn sie mir etwas übrig gelassen hätten. Vor über 400 Jahren hat die Nexus Prime die Erde verlassen und wir haben nicht vergessen, dass wir aus dem Paradies vertrieben wurden. Aber ich glaube, dieser Schmerz hatte etwas Gutes an sich. Wir wissen jetzt, wie es sich anfühlt und würden sowas nie einer neuen Generation antun. Auf unserem Schiff produzieren wir genau so viel, wie wir zum Leben brauchen. Es entsteht kein Abfall, alles ist zu 100 % recyclebar. Ja, auch das Toilettenpaper. Da kann ich euch mein Wort geben, schließlich war ich Nexus‘ bester Müllsortierer. Der Punkt ist, dass wir jetzt wissen, wie es geht. Das heißt, wir können zur Erde zurückkehren und das Problem fixen, das unsere Vorfahren uns hinterlassen haben!“ Die Realisation kollidierte mit Riley wie sein Heimatschiff mit dem Mond. „Wir konnten … wir hätten gekonnt. Wenn nur dieses verdammte Navigationssystem …“ Es war nur wenige Wochen her, da wäre seine Tochter drei Jahre alt geworden. Riley spürte, wie Tränen in seine Augen stiegen. Er ballte seine Hand zur Faust und biss sich zwischen die Knöchel. Meistens war der Schmerz ertragbar, hauptsächlich dank dem Zeug, das Kumpel für ihn zusammenmischte. Was auch immer es war, es verschloss den Schmerz gut in einer Kiste. Nur leider hatte die Kiste ein Leck …

„Wenn ihr die Lösung herausgefunden habt, warum habt ihr der Erde in 400 Jahren nie einen Besuch abgestattet?“, fragte der Älteste. Missbilligend? Kritisierend? Interessiert?

„Geben wir Riley einen Moment. Ich möchte sie alle daran erinnern, dass er vor einem halben Jahr seine gesamte Familie, all seine Freunde und seine Heimat verloren hat. Zudem muss er mit der Bürde leben, der wahrscheinlich letzte Mensch im Universum zu sein. Er trägt ein härteres Schicksal auf seinen Schultern als wir alle“, gab Kumpel zu bedenken.

„Ist schon gut. Ich werde all eure Fragen beantworten, wenn ihr uns dann nur versteht. Wenn ihr versteht, warum wir diese zweite Chance verdient haben.“

 


5. Endlose Leere

„Nexus Prime war nicht das einzige Raumschiff, das vor 400 Jahren die Erde verlassen hat. Es waren tausende. Das Ziel war es, irgendwo Zuflucht zu finden und Stützpunkte zu errichten. Von dort aus wollten wir abwarten, an neuen Technologien tüfteln, Ressourcen sammeln, der ganze gute Kram. Es war immer geplant, irgendwann zurück zur Erde zu kehren. Nexus konnte uns alles bieten, was wir zum Überleben brauchten, wahrscheinlich war es auf den anderen Kolonieschiffen nicht anders. Trotzdem wussten wir tief in unseren Herzen immer, dass es nicht unsere wahre Heimat ist. Das Thema, mit dem sie uns auf Nexus‘ Schule nie in Ruhe ließen, es war die Erde. Geschichte der Erde, Geografie der Erde, Physik der Erde, ich denke, ihr versteht meinen Punkt. Kayla hat immer gesagt, die Nexen wollen gar nicht wahrhaben, dass nicht mal die runzeligste Oma unter ihnen alt genug war, um die Erde jemals persönlich gesehen zu haben. Die Sehnsucht wurde uns einfach mit den Genen weitergegeben, kommt mir vor. Und wenn ich euch jetzt sagen soll, warum wir dann nie zurückgegangen sind, kann ich das nicht richtig beantworten. Ich war auf Nexus kein hohes Tier, wie schon gesagt, ich habe Müll sortiert. Wahrscheinlich lag es daran, dass der Kontakt zu den anderen Kolonieschiffen abgebrochen ist. Klar, inzwischen haben wir rausgefunden, was wir auf der Erde falsch gemacht haben und wie es sich stattdessen gehört. Aber wir waren nicht viele auf Nexus. Wir haben gewartet, auf ein Zeichen. Dass die anderen uns sagen: >Jetzt geht die Mission los<. Jetzt weiß ich, dass wir nicht hätten zögern sollen. Wenn ihr eine neue Generation von Menschen ins Leben holt, kann ich ihnen alles beibringen. Die Philosophie von Nexus. Wie man auf seine Umwelt achtet und in Balance lebt. Wir würden euch nicht lange zur Last fallen.“

„Ich verstehe, Riley Sinclair. Es war Angst, die euch gelähmt hat. Unentschlossen habt ihr in der Leere des Universums darauf gewartet, dass jemand euch rettet.“

Das Bild drehte den Schlüssel zu einer seiner jüngsten Erinnerungen um. Wie er in dem kleinen Rettungsschiff saß und ihm war, als hätte die Endlosigkeit des Universums ihn ganz in ihren Bann gezogen. Dieser schier nie enden wollende Raum hatte Riley daran erinnert, wie er sich schon seit er denken konnte schmerzlich nach etwas sehnte. Eine Sehnsucht, die ihm ständig das Gefühl gab, dass, was er hatte, nicht gut genug war und dass er suchen musste, was ihm fehlte. Aber ihm war nie richtig bewusst gewesen, was es war. Die Erde, eine Heimat. Vielleicht. Jetzt dachte er anders. Wäre die Technik der Wächter so fortgeschritten, dass sie ihm Kayla und Mia zurückgeben könnte, so würde er sich schwören, nie mehr auch nur eine Sekunde lang unzufrieden zu sein.

„Angst“, wiederholte Riley, als wäre er derjenige, der noch nie was von Worten gehört hatte. „Ja, vielleicht. Vielleicht wussten die Nexen nicht, ob sie der Aufgabe gewachsen sind.“

„Warum, Riley Sinclair, glaubst du, dass die von dir erzogene neue Generation an Homo Sapiens anders wäre?“

 


6. Ein akzeptabler Vater

„Weil ich ihnen beibringen würde, keine Angst zu haben. Sie wüssten von Anfang an, was zu tun ist.“

„Bist du furchtlos?“

Riley dachte an Kayla, die Tränen in den Augen hatte, als sie ihn fragte, ob er wirklich zu feige war, um ihr die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. „Meistens, ja.“

„Unsere Investigationen auf Nexus Prime haben gezeigt, dass du das letzte funktionstüchtige Rettungsschiff verwendet hast und dies ganz alleine. Ich möchte die Anwesenden darauf hinweisen, dass mindestens 27 weitere Bewohner des Kolonieschiffes gerettet werden hätten können, wenn Riley Sinclair nicht den letzten Ausweg für sich alleine beansprucht hätte. War diese Tat nicht durch Angst motiviert?“

„Nein!“ Riley spürte, wie seine Wut in nur Millisekunden den Siedepunkt erreichte. Er schlug mit den Fäusten auf das Pult. „Ich hatte keine Ahnung, dass das Navigationssystem kaputt war. Niemals hätte ich meine Kleine zurückgelassen, niemals! Ich hätte ihr und Kayla sofort meinen Platz gegeben!“

„Was war denn das Motiv hinter deiner Tat, Riley Sinclair? Soweit wir das in Erfahrung bringen konnten, hattest du nicht die Befugnis, das Rettungsschiff zu nehmen. Es kann aus diesem Grund als ein krimineller Akt vermerkt werden.“

„Ich …“ Riley wollte darüber mit niemandem reden, schon gar nicht mit tausenden Schnabeltier-Fledermaus-Kreaturen. Er blickte hinunter auf seine Fäuste und holte einen tiefen Atemzug. „Es hatte private Gründe.“

„Riley Sinclair, dein Schweigen wird sich negativ auf deinen Fall auswirken“, informierte ihn der Älteste.

„Was? Wieso? Es geht hier doch nicht um mich. Es geht um das Schicksal der ganzen Menschheit, verdammt! Oder ist das hier etwa meine verschriebene Therapiesitzung, zu der ich nie hingegangen bin?“

„Riley …“ Kumpel berührte ihn vorsichtig an der Schulter. „Unser Ältester hat recht. Du bist unsere einzige lebende Referenz, um den Charakter der Menschen zu beurteilen. Wie wir dich wahrnehmen, beeinflusst, wie wir deine ganze Spezies wahrnehmen.“

„Das könnt ihr nicht machen! Ich bin nur irgendein Typ, irgendein nexischer Müllsortierer. Wir hatten so viele kluge Köpfe auf Nexus. Wissenschaftler, Ärzte. Nehmt doch nicht mich als Maßstab für alle Menschen“, flehte Riley.

„Bist du denn nicht, was man als Durchschnitt bezeichnen könnte?“, fragte der Älteste. Dieses Mal war Riley sich ziemlich sicher, dass es als Beleidigung gemeint war. Aber vielleicht war das auch nur seine Wut.

„Durchschnitt? He, ich hatte immer ganz akzeptable Noten in der Schule …“

„Ja, das haben wir in der Datenbank der Bewohner von Nexus Prime überprüft. Akzeptabel in der Schule, akzeptabel bei der Eingangsprüfung zum Müllsortierer, akzeptabel bei deinen Pflichten in der Gemeinschaft, akzeptabel als Vater. Keine kriminellen Tätigkeiten, wenn man von den jüngsten Ereignissen absieht. Würdest du mir widersprechen, dass es sich hierbei um ein durchschnittliches Leben handelt?“

Akzeptabel als Vater … Ein kleiner unbedeutender Moment kam ihm in den Sinn. Wie Mia ihn erblick und sofort die kleinen Ärmchen nach ihm ausgestreckt hatte. Nachdem Riley sie hochgenommen hatte, hatte sie ihm mit ihren Händchen ins Gesicht gepatscht. Die Hände von Kleinkindern waren irgendwie immer klebrig. Irgendetwas braute sich in seinem System zusammen, entweder, das Pult zu Kleinholz zu zertreten oder in unkontrolliertes Schluchzen auszubrechen. Nichts davon würdevoll, nichts davon unwahrscheinlich. „Ja, dann bin ich wohl Durchschnitt.“

„Das sind die besten Bedingungen für uns, um die Entscheidung bezüglich des Weiterbestehens der Menschheit zu treffen. Denn die meisten der neuen Generation wären keine Wissenschaftler oder Ärzte, sie wären Durchschnitt, so wie du. Wir müssen ahnen können, wie nobel euer Durchschnitt ist.“

Plötzlich fragte sich Riley, ob er ein guter Mensch war. Noch nie hatte er sich diese Frage so direkt gestellt. „Tut, was ihr nicht lassen könnt“, sagte Riley, irgendwie abwesend, als wäre er auf Autopilot.

„Es gibt noch eine andere Ebene, warum wir deinen Charakter im Speziellen prüfen müssen. Würden wir eine neue Generation an Menschen heranzüchten, könnten wir sie mit den Kenntnissen von Kumpel physisch am Leben halten. Wir könnten ihnen unser Wissen vermitteln, auch das, was wir über die Menschen gelernt haben. Aber, du wärst derjenige, der ihnen beibringen müsste, was es heißt, ein Mensch zu sein. Nicht nur das Vermächtnis von Nexus Prime, sondern das, der ganzen Menschheit und ihrer tausendjährigen Geschichte lastet auf deinen Schultern. Die neuen Menschen wären auf dich angewiesen. Du müsstest ihr Vater sein.“

 


7. Männliche Domina

Er musste sofort hier weg. Riley hatte das Gefühl, er war wie ein eingefrorener Computer, der überlastet mit tausenden Aufträgen war. Noch ein Klick und niemand wusste, was passieren würde (wahrscheinlich würde er Feuer fangen). „Können wir eine Pause einlegen?“, fragte Riley mit all der Selbstbeherrschung, die er noch zustande brachte.

„Es ist noch nicht Zeit für eine Unterbrechung“, meine der Älteste. Riley bekam den Eindruck, dass er sich bei ihm nicht gerade beliebt gemacht hatte.

„Wir können sie doch ruhig vorziehen. Lassen wir alle Beteiligten darüber reflektieren, was wir bisher gehört haben“, schlug Kumpel vor.

Die Augen des Ältesten blinzelten nicht mal. Hatte Riley überhaupt jemals einen Wächter blinzen sehen? „So soll es sein. Wir unterbrechen für 60 irdische Minuten, um uns zu besinnen“, stimmte der Älteste zu seiner Überraschung zu.

Das Gepfeife von Kumpel, das Riley nur noch als Hintergrundgeräusch registrierte hatte, verstummte. Wie perfekt programmierte Roboter, erhob sich immer nur jeweils der Wächter, der am nächsten bei der Treppe der Tribüne war. Sittlich und ruhig marschierten sie in einer Reihe zum Ausgang. Riley hätte sich ohne zu zögern vorgedrängelt, wenn nicht das Sonnenlicht draußen ihm nach nur wenigen Minuten Hautkrebs geben und die Atmosphäre ihn nach nur wenigen Sekunden am Boden nach Luft japsen lassen würde. Metaphorisch drehte er der Welt den Rücken zu, als er sich auf das Pult setzte. Riley merkte erleichtert, dass der Blick auf ein Stückchen Natur ihn sofort ein wenig beruhigte. Die Wächter hatten es geschafft, mithilfe der Überbleibsel von Nexus Prime ein funktionierendes irdisches Ökosystem innerhalb einer massiven Glassäule zu kreieren. Darunter befanden sich verschiedene Palmen, Sträucher, Farne und sogar Schmetterlinge zogen friedlich von Blatt zu Blatt. Nicht nur war es eine wunderschöne Erinnerung an die Erde, es ermöglichte Riley auch, in dieser Halle zu atmen ohne irgendeinen Schnickschnack von Kumpel. Er war froh, dass Kumpel ihm das Ökosystem vor dem Prozess gezeigt hatte, denn, als er es zum ersten Mal gesehen hatte, war er in Tränen ausgebrochen und hatte die Scheibe abgeknutscht. Das hier war Heimat, während draußen alles irgendwie falsch aussah. Die Pflanzen waren gigantisch und hatten schillernde Oberflächen, ähnlich wie die Haut der Wächter. Ebenfalls nach deren Bilde, hatten die Stämme und Stiele kleine, runde Löcher, die Töne erzeugten, wenn der Wind hindurch zog. So etwas wie Tiere gab es schon seit tausenden von Jahren nicht mehr, schließlich wären sie ein zu großer Chaosfaktor. Nichts auf diesem Planeten war zufällig; die Wächter hatten alles designt nach ihrem perfekten Plan, einschließlich sich selbst. Sie waren die Schnabeltiere des Universums, nur, dass das Zusammenwürfeln verschiedener Körperteile bei ihnen Absicht gewesen war, im Gegensatz zum tatsächlichen Schnabeltier, das die Evolution auf der Erde zusammengebastelt hatte.

„Willst du auch nach draußen gehen?“, fragte Kumpel.

„Nein. In deinem Schutzanzug komme ich mir vor wie eine männliche Domina.“

Kumpel legte den Kopf schief, eines seiner Ohren zuckte. „Ich kann das Design ändern, wenn es ein Problem ist.“

„Schon gut. War nur ein Scherz.“ Eigentlich war es überhaupt kein Scherz. Das Ding war hauteng, schwarz und das Glas der Atemmaske war komplett abgedunkelt. Wann immer er es anhatte, kam er sich vor, als wäre er im Bordell von Nexus Prime bestens aufgehoben. Zwicken tat es auch noch. Wenn es Riley nicht buchstäblich umbringen würde, sich ohne Schutzanzug in der Atmosphäre dieses Planeten aufzuhalten, hätte er sich bei Kumpel überschwänglich bedankt, aber das Geschenk dann verloren. Ihm war klar, dass er nur nach einem neuen Modell fragen würde müssen, um es zu bekommen, aber Riley brachte es aktuell nicht über sich, Kumpel um weitere Gefallen zu bitten. Schließlich stand er schon zu tief in seiner Schuld. Ohne diesen Wächter hätte er sich niemals Gehör verschaffen können. Ohne ihn hätten sie nicht mal anerkannt, dass Riley intelligent war oder ein Bewusstsein hatte. Ohne ihn würde er immer noch in einem Glaskäfig sitzen und fremdartige Kreaturen anflehen, ihn rauszulassen, in einer Sprache, die sie nicht verstanden.

 


8. Im Durchschnitt gut

Kumpel hatte diese kleine, schwebende Metallbox, die ihm auf jeden Schritt folgte. Darin trug er gefühlt sein halbes Labor mit sich herum. Er pfiff etwas, vermutlich einen Code, wodurch sich die Box öffnete. „Trink das“, forderte er Riley auf und gab ihm einen dreieckigen Behälter. Der mutmaßte, dass die Wächter so auf Dreiecke abfuhren, weil sie diese Form gut mit ihren langen, klauenartigen Fingern greifen konnten.

„Alkohol?“, fragte Riley mehr scherzend als hoffend und kippte sich das ganze Zeug auch schon runter. Es schmeckte irgendwie nach Erdbeeren (die es nur selten auf Nexus Prime gegeben hatte). Mittlerweile hinterfragte er nicht mehr, was Kumpel ihm alles einflößte. Schließlich kannte der sich besser mit menschlicher Gesundheit aus als er selbst.

„War das Sarkasmus? Es ist ein perfektes Verhältnis an …“

„… allen für Menschen lebensnotwendigen Aminosäuren, Vitaminen, Metalle, blabla …“

„Minerale. Keine Metalle“, korrigierte Kumpel ihn. „Brauchst du noch eine Pille?“

Riley dachte an die verschlossene Kiste in seinem Herzen und an den Schmerz darin, der hier und da heraussickerte. Diese Pille würde eine weitere Schicht Panzertape um die Kiste herumkleben. „Nein, ich denke, es ist gut, dass ich gerade fühle.“ Für einen Moment schwiegen sie, Riley konnte das leise Surren der Klimaanlagen in der Glassäule hören. „Ich werde diesen Fall nicht gewinne, oder?“, fragte er plötzlich.

„Das ist noch nicht entschieden“, ermutigte ihn Kumpel.

Riley seufzte und legte den Kopf in die Hände. „Ich bin ein Vollidiot.“

„Laut den Aufzeichnungen von Nexus Prime kann deine Intelligenz als durchschnittlich für Homo Sapiens verstanden werden.“

„Das ist nicht, was ich meinte. Ich habe nicht daran gedacht, dass ich eine Art Vater für die neue Generation an Menschen sein müsste.“

Wenn Kumpel Augenbrauen besessen hätte, dann hätte er jetzt sicher eine davon angehoben. „Wie hast du es dir denn vorgestellt?“

„In meinem Kopf sah das so aus, dass ich ein paar Mal in der Woche ihnen was über Geografie, Mathematik oder Starbucks-Becher erzählen würde, Lehrer-Style eben. Ich wusste nicht, dass ich ein menschliches Vorbild für sie sein sollte.“

„Wenn du das gedacht hast, bist du in der Tat ein Vollidiot.“

Riley lachte auf. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass Kumpel ihn jemals beleidigt hatte. „Danke für deine aufbauenden Worte, mein Freund. Ich hätte dich statt Kumpel wirklich Fledermausfresse nennen sollen.“

Ein Pfeifen erklang aus Kumpels Schnabel, das ein kurzes Stechen in Rileys Gehör verursachte. Vielleicht ein Lachen. „Willst du wissen, warum du ein Vollidiot bist?“, fragte Kumpel. Riley nickte. „Mein Volk könnte Menschen nachzüchten, aber sie nach unseren Vorstellungen erziehen. Sogar mehr als das, wir könnten die menschliche DNS modifizieren, so wie wir es mit unserer getan haben. Wir könnten euch eure Geschlechtlichkeit nehmen. Keine Eifersucht, kein Besitzergreifen, keine sexuelle Ausbeutung mehr. Wir könnten euch effizienter in der Aufnahme von Energie machen, sodass ihr nicht so viel Potenzial verschwendet, nur um eure Kräfte zu sparen. Kein Schlaf, keine ständige Nahrungsaufnahme mehr. Wir könnten euch sanfter und friedlicher machen. Keine Impulsivität, keine Kriege, keine Gewalt mehr. Wir könnten euch weniger ängstlich machen. Keine Handlungslähmung, keine Furcht vor dem Unbekannten. All das könnten wir tun, aber warum hätte das wenig Sinn?“

„Es wären keine Menschen“, antwortete Riley sofort.

„Du hast uns gefragt, ob wir die Menschen zurückholen. Mit allem, was sie ausmacht. Den guten und den schlechten Eigenschaften. Deshalb bräuchten sie dich“, erklärte Kumpel.

„Damit sie so werden wie ich? Ich weiß nicht, ob ich ein guter Mensch bin. Ich weiß ja nicht einmal, ob ich nicht unterdurchschnittlich gut bin!“, meinte Riley verzweifelt. „Kumpel, ich war nicht mal für meine eigene Tochter der Vater, den sie verdiente.“ Einmal hatte er Mia verloren. Sie hatte gerade laufen gelernt und ihren Moment genutzt, als Riley von einem Spiel auf seinem Tablet abgelenkt war, um aus ihrer Wohneinheit abzuhauen. Über eine Stunde hatte er gebraucht, um sie wiederzufinden, da es ihr sogar gelungen war, den Lift zu betätigen mit ihren winzigen Patschhändchen. Auf ihrem kleinen Abenteuer hätte sie in einen Müllschacht fallen und sterben können. Davon hatte er Kayla nie erzählt.

„Dann willst du die neue Ära der Menschen aufgeben?“

„Das kann ich nicht.“ Riley zuckte mit den Schultern.

„Dann hast du wohl keine andere Wahl als weiterzumachen.“

„Danke.“ Und es lag nichts als pure Aufrichtigkeit in diesem Wort. Riley hoffte, dass Kumpel das wusste.

 


9. Ich hasse dich …

„Ich möchte nun ehrlich mit euch sein. Ich kann nicht sagen, ob ich wirklich Durchschnitt bin. Vielleicht bin ich gar nicht so ein guter Mensch. Da gibt es vieles, was ich in meinem Leben falschgemacht habe. Das Rettungsschiff zu stehlen, war nicht meine schlimmste Tat, aber eine Konsequenz davon. Meine Freundin Kayla und ich waren schon zusammen, als wir mit 18 Jahren die Schule abgeschlossen haben. Eure Beziehungen sind ganz anders als die von uns Menschen, deswegen wird es wahrscheinlich schwierig euch das zu erklären. Wir haben nicht diese Seelenverwandtschaft wie ihr, also man trifft sich, weißt sofort, dass man zusammengehört und hinterfragt das für die nächsten tausend Jahre nicht ein einziges Mal. Bei uns ist es auch nicht so, dass wir uns irgendwann, nach zwei- oder dreihunderten Jahren dazu entscheiden, dass wir uns jetzt ein Kind im Labor zusammenstellen wollen, das jeweils das Beste von beiden Eltern in sich trägt. Ganz im Gegenteil, bei uns passiert es auch oft, wenn keiner der Beteiligten es will. Man kennt sich meistens auch erst seit ungefähr fünf bis zehn Jahren, bevor man Kinder kriegt. Da ist nichts drinnen mit einem über Jahrhunderte gestärkten Band. Kayla und ich waren recht jung, seit Jahrzehnten hat kein Bewohner auf Nexus Prime so jung Kinder bekommen. Es war auch das miesteste Timing. Kayla und ich hatten darüber gesprochen, unsere Beziehung zu beenden. Wir wollten andere Leute sehen, noch ein bisschen was vom Leben haben und so was. Naja, da war sie schon schwanger. Wir haben es für unsere Kleine versucht, aber ich habe noch nie einen Menschen, den ich liebe, gleichzeitig so gehasst wie Kayla. Nicht richtig gehasst … eigentlich habe ich sie nie gehasst. Es waren nur diese Momente, in denen wir uns über den Küchentisch gebeugt angeschrien hatten, während unser Abendessen langsam kalt wurde und unsere Tochter uns aus großen Augen angestarrt hatte … Kayla war der festen Überzeugung, ich würde nichts aus meinem Leben machen und hinter meinem Potenzial zurückbleiben. Wie wir jetzt wissen, hatte sie unrecht, schließlich bin ich durchschnittlicher Durchschnitt. Ich glaube, Kayla hat einfach gespürt, dass ich mit irgendwas unzufrieden war und sie wollte es fixen, so war sie eben. Aber ein Studium hätte mir nicht geholfen, nur weil es das war, das ihr einen Sinn gegeben hat. Therapie hätte mir nicht geholfen, nur weil es ihr Leben zum Bessern verändert hat. Ich hätte versuchen sollen, mit ihr darüber zu reden … stattdessen habe ich sie immer mehr gemieden. Leider hat das auch dazu geführt, dass ich meine Kleine vernachlässigt habe. An Abenden, an denen ich mit ihr eine Geschichte mit lustigen Stimmen hätte vorlesen können, bin ich lieber in eine Untergrundbar gegangen. Substanzen, welche die Psyche beeinflussen, sind eigentlich auf Nexus verboten, aber sie werden von der Regierung geduldet, solange man sie quasi im dunklen Hinterzimmer einnimmt. Ich habe Alkohol getrunken, regelmäßig und nicht wenig. Trotzdem habe ich nie etwas wirklich Dummes getan, bis zu dieser einen Nacht, in der ich den größten Fehler meines Lebens beging …“

 


10. … bitte, bleib bei mir

„Ich war frustriert, unglücklich, mit einer Freundin Zuhause, bei der ich in jedem Blick las, dass sie mich nicht leiden konnte. Und mir bot sich die perfekte Gelegenheit, also habe ich meine Partnerin betrogen. Ich weiß, ihr Wächter versteht dieses Konzept auch nicht so wirklich. Wenn man in einer Beziehung ist, dann kann man nicht einfach mit anderen Leuten … verkehren. Es ist wie ein Schlag ins Gesicht der Partnerin.“

„Auf der Erde soll es vorgekommen sein, dass Personen für ihre sexuelle Untreue ermordet wurden. Das beweist schon, wie der Partner sich aufgrund dieser Tat tief verletzt und verraten fühlen muss“, ergänzte Kumpel.

Riley hatte das Gefühl, er sank auf der Gut-Skala immer tiefer in den unterdurchschnittlichen Bereich. „Ja, Kayla war sehr verletzt, als sie es erfahren hat. Die Frau, mit der ich … verkehrte, hat rausgefunden, dass ich eine Freundin und ein Kind habe. Sie hatte recht, dass Kayla die Wahrheit verdient, aber ich wünschte, sie hätte mir die Chance gegeben, es ihr selbst zu sagen. Kayla hat mich angeschrien, mir gesagt, dass ich absoluter Schmutz wäre, ein schrecklicher Vater. Ich habe nichts gesagt, ich konnte nichts sagen. Zum ersten Mal seit Monaten konnte ich wieder klarsehen. Kayla war die Liebe meines Lebens; klug, fürsorglich und wunderschön. Wir hatten einfach eine schwierige Phase und die wäre vorbeigegangen, wenn ich nur durchgehalten hätte. Ich wollte sie anflehen, bei mir zu bleiben, aber ich wusste, dafür war ich zu weit gegangen. Als ich realisierte, dass ich sie nie zurückhaben könnte, hatte ich das Gefühl, zu ersticken. Mir kam es vor, als würden die Wände um mich herum immer näher kommen. Und da sind wir auch schon bei der unschönen Wahrheit. Ich habe das Rettungsschiff gestohlen, weil Kayla irgendwann still wurde und auf eine Reaktion von mir wartete. Ich habe es gestohlen, weil ich gar nichts mehr wusste, außer, dass ich weit weg muss. Und Nexus Prime war zu klein für mich, um darauf davonlaufen zu können.“ Er spürte, dass ihm Tränen das Gesicht herunterrannen, aber dieses Mal war es ihm egal. „Ich bin abgehauen, weil ich dachte, ich hätte gerade alles verloren. Und dann habe ich wirklich alles verloren.“


11. Die Egoismus-Waage

„Das sind also die zwei Persönlichkeiten des Riley Sinclair“, stellte der Älteste fest.

„Was meinst du?“, fragte Riley irritiert.

„In deiner Schilderung konnte ich kein einziges Mal eine böse Absicht herauslesen. Es scheint nicht so, als hättest du deine Familie verletzen wollen. Du hast beobachtet, wie sich deine Lebensgefährtin emotional immer weiter von dir entfernt, aber warst wie in Paralyse. Deine Unfähigkeit, mit der Lage umzugehen, hat dich dazu gebracht, deine Familie zu meiden. Du hast registriert, dass deine Tochter ihren Vater vermisst, aber konntest nicht in dein eigenes Verhalten eingreifen. In all deinem Frust wusstest du dir nicht anders zu helfen als dich mit diversen Vergnügen aufzuheitern, obwohl diese Glücksmomente nur von kurzer Dauer waren. Am Ende wurdest du mit einer anderen Frau als deiner Partnerin intim, was in eurer Spezies einen schweren Vertrauensbruch darstellt. Jetzt im Nachhinein bist du voller Reue über diese sexuelle Begegnung und sagst, sie wäre der größte Fehler deines Lebens gewesen. Und dennoch hast du es getan.“

Riley ahnte, worauf der Älteste hinauswollte und es machte ihn wütend. „Halt, halt. Ich weiß, was du sagen willst. Mein Leben soll der Beweis dafür sein, dass die Menschen sich nicht ändern können.“

„Ich wollte lediglich auf die Parallelen hinweisen. Ihr Homo Sapiens lebt ständig in der Spannung zwischen Egoismus und Moral. Und für die meisten für euch scheint die Waage eher Richtung Egoismus zu kippen. Diese Tendenz hat der Menschheit ihre Heimat gekostet und dich, Riley Sinclair, deine Familie.“

„Dann zählt Nexus Prime etwa gar nicht? Natürlich war es keine perfekte Gesellschaft, aber wir haben definitiv aus unseren Fehlern auf der Erde gelernt, oder etwa nicht?“

„Das möchte ich euch nicht absprechen. Aber man muss die Umstände bedenken. Um eine ganze Kolonie auf einem Schiff durchzufüttern, hattet ihr keine andere Wahl, als ein nachhaltiges System aufzubauen. Ebenso verhielt es sich mit der Kriminalität. Ja, sie war niedriger als in jeder Stadt auf der Erde, aber hättet ihr euch Konflikte überhaupt leisten können bei eurer kleinen Population? Mir scheint es, eure Waage fällt nur auf die Seite der Moral, wenn man sie mit aller Macht nach unten drückt.“

„Du stellst uns hier absichtlich unter eine schlecht ausgeleuchtete Lampe. Nexus hat mir gezeigt, dass wir Menschen das Richtige tun könne, wenn die Bedingungen stimmen. Sobald die ganze Gruppe sagt >wir arbeiten zusammen daran<, dann funktioniert es auch. Wir Menschen können Großes leisten, wenn wir gemeinsam einen Strang knüpfen.“

„Ist es nicht deine Annahme, dass Nexus Prime die besten Bedingungen geboten hat? Warum bist du dann trotzdem deinem Egoismus erlegen?“

„Es war ein Fehler! Der macht mich doch nicht gleich zu einem egoistischen Arschloch, oder?“ Seine Stimme klang unsicher.

„Man kann auch sagen, dass die Zerstörung der Erde nur ein einziger Fehler war. Mit fatalen Konsequenzen, versteht sich. Riley Sinclair, wie kannst du uns garantieren, dass deine neuen Menschen ihre Existenz nicht dafür aufwenden würden, noch mehr Unheil im Universum anzurichten?“

„Ich denke, wir brauchen einfach Zeit …“

„Und wie viel muss das Universum ertragen, um euch diese Zeit zu gewährleisten?“

Wieder musste Riley an Mia denken, an ihr schrilles Lachen, wenn er eine ulkige Figur aus einem Buch dargestellt hatte. „Ich … ich weiß es nicht. Aber wir haben mehr verdient als das.“


12. Level 0

„Damit ist der Fall für mich abgeschlossen. Riley Sinclair konnte mich weder vom Charakter der Homo Sapiens noch von seinem im Speziellen überzeugen“, verkündete der Älteste.

„Das kommt mir nicht sonderlich gerecht vor. Die Menschen sind komplex, man kann sie nicht einfach anhand einer Handlung beurteilen“, widersprach Kumpel.

„Ein gravierender Fehler gewichtet mehr als eine Reihe unbedeutender tugendhafter Taten …“

„Wartet“, unterbrach Riley die beiden Wächter, ruhig, aber bestimmt. „Eine letzte Sache habe ich noch zu sagen und dann könnt ihr euer Urteil fällen.“

Die tiefblauen Augen des Ältesten legten sich auf Riley, das Starren nicht durch das schnellste Blinzeln durchbrochen. „Nun, gut. Nutze deinen Moment.“

„Du hast recht, Ältester. Wir sind voller innerer Konflikte, wollen das eine tun, aber machen dann doch das andere. Und dieses >andere< ist meistens das Falsche. Und trotzdem bleibe ich dabei, dass wir noch eine Chance verdient haben. Ich denke sogar, dass ihr uns braucht. Dass das Universum uns braucht.“

„Euch brauchen? Wofür denn?“, erkundigte sich der Älteste. Amüsiert. Er nahm Riley kein Stück ernst, dessen war er sich sicher.

„Das kann ich euch gerne beantworten. Lasst mich etwas ausholen.“ Riley deutete auf einen zufälligen Wächter in der Menge. „Wie lange lebst du schon?“ Da Kumpel beinahe in Echtzeit übersetze, antwortete der Angesprochene ohne zu Zögern.

„Umgerechnet in Erdenjahren wären das … 9.753“, teilte Kumpel mit.

„Und du?“ Riley hatte jemand Neues ausgewählt.

„14.768.“

„Und Kumpel hier ist 5.555 Jahre alt“, erinnerte sich Riley, so eine makellose Zahl vergaß nicht mal er, obwohl sein Gehirn sich bei Zahlen wie ein Sieb anstellte. Es fiel ihm immer noch schwer, sich eine Alterspanne von über 5.000 Jahren vorzustellen. Zur Zeit, als Kumpel ein Kind war (wenn es das Konzept Kindheit bei den Wächtern überhaupt gab), hatten die Menschen noch auf der Erde gelebt, in kleinen Gruppierungen, eher mickrig in ihrer Anzahl. Sie waren noch weit davon entfernt gewesen, ihren Heimatplaneten zu zerstören.

„Wo soll das hinführen?“, fragte der Älteste. Genervt.

Riley ignorierte ihn. „Wie lange existiert eure Spezies schon?“

„In unserer neuen, modifizierten Form, seit ungefähr 50.000 Jahren“, antwortete Kumpel sofort.

„Und wie wart ihr davor?“

„Wir wiesen etwas mehr Ähnlichkeiten zu euch Menschen auf. Aber als wir die Möglichkeit dazu hatten, gaben wir Eigenschaften auf wie etwa die geschlechtliche Fortpflanzung oder die Notwendigkeit von Schlaf. Tatsächlich ist uns aber nicht viel über die Zeit vor unserer Laborgeburt bekannt. Es gibt nicht einmal Bilder oder Beschreibungen, wie wir damals ausgesehen haben. Ob unsere Flügel sich, zum Beispiel, natürlich entwickelt oder ob wir sie künstlich in unsere DNS eingefügt haben, da sie es uns einfacher machen, unseren Körper mit Sonnenenergie aufzuladen. Manchmal frage ich mich, ob unsere Vorfahren uns alles über die primitive Phase unserer Geschichte vergessen lassen wollten“, sagte Kumpel. Er wirkte nachdenklich.

„Unsere Spezies hat diverse Entwicklungsphasen durchgemacht, aber ich verbitte mir, den Begriff >primitiv< zu verwenden. Wir zeigten nie eine selbstzerstörerische Tendenz, gleich der der Homo Sapiens. Uns ging es immer um Fortschritt“, widersprach der Älteste.

„Und woher willst du das wissen, wenn es euch schon seit mehreren zehntausenden Jahren gibt? Wenn ihr euch nicht einmal mehr daran erinnert, wie ihr früher wart? Wer sagt, dass ihr nicht vor 100.000 Jahren kurz vor dem Aussterben standet, aber ein glücklicher Zufall euch gerettet hat?“

„Deine Taktik erzürnt mich, Riley Sinclair. Du willst uns auf das Level von euch Homo Sapiens herabsenken, nur, damit wir mit euch sympathisieren.“

Riley war überrascht, zu merken, dass ihn diese Aussage nicht wütend machte. Ganz im Gegenteil, er fand sie irgendwie amüsant. Die Wächter, diese perfekte Spezies, waren so eitel, dass es sie verärgerte, wenn sie mit einem niederen Lebewesen wie ihm verglichen wurden. „Vermutlich stimmt es, dass ich mich auf einem niedrigeren Level befinde als ihr. Aber das heißt nicht, dass wir nicht alle auf demselben Level angefangen haben, Level 0.“


13. Wenigstens war es nicht langweilig

„Ihr seid einfach abgehoben, das ist euer Problem“, mutmaßte Riley.

„Was soll das heißen, >abgehoben<?“, wollte der Älteste wissen. Seine Ohren waren angelegt wie bei einer wütenden Katze.

„Ihr wisst nicht mehr, was es heißt, ein Lebewesen mit Problemen zu sein. Ihr habt keine inneren Konflikte, weil es euch nicht im Geringsten schwerfällt, das Richtige zu tun! Eifersucht? Kennt ihr nicht. Ängste? Wozu, wenn eure Welt so perfekt ist, dass es keine Ungewissheit mehr gibt. Sinnkrise? Jeder von euch hat alle Zeit der Welt, um rauszufinden, was er mit seinem Leben anfangen will. Ich werde euch Wächtern jetzt etwas sagen, das euch nicht gefallen wird … Eure perfekte Zivilisation, in der es keine Kriege gibt, ja noch nicht einmal Streit, in der niemand mehr Ressourcen verbraucht als notwendig und in der alle fröhlich singend neue wissenschaftliche Erkenntnisse zusammentragen, genau die Zivilisation, die ist einen Scheißsdreck wert.“

Sofort ertönte empörtes Pfeifen von allen Seiten, Riley musste die Hände gegen die Ohren pressen. Auch, als er auf die Knie fiel vor Schmerz, konnte er ein zufriedenes Lächeln nicht unterdrücken.

„Bitte, elaboriere“, forderte der Älteste ihn auf, als das Gepfeife wieder verstummt war. Zu gern wüsste Riley, was sein aktueller Gemütszustand war.

„Perfekt zu sein ist eure Natur. Überall, wo ihr lebt, entsteht eine perfekte Gesellschaft, quasi von alleine. Keiner von euch muss durch die Hölle, nur, um seine Familie nicht zu verlieren oder für ein bisschen Frieden. Vielleicht mussten es eure Vorfahren, aber bestimmt keiner von euch, hier und jetzt. Eure Spezies, die hat schon Level 1.000 erreicht. So viel gibt es für euch nicht mehr zu lernen. Ich glaube, genau das ist der Grund, warum ihr euch meine lächerlichen Forderungen überhaupt anhört. Denkt darüber nach.“ Riley tippte sich gegen die Stirn. „Ich frage euch gerade, ob ihr eine fremde Spezies aufzieht und ihr dabei helft, auf ihren Planeten zurückzukehren. Dabei würde rein gar nichts für euch rausspringen. Ihr zieht es doch nur in Erwägung, weil euch stinklangweilig ist!“

„Langeweile, das ist doch ein menschliches Konzept. Unseresgleichen findet immer eine Aufgabe.“

„Okay, was hat sich denn in den letzten paar Jahrhunderten für euch großartig verändert?“

Wieder wurde es still in der großen Halle. Kumpel kratzte sich mit seiner Klaue hinter dem Ohr. „Wir haben eine neue Tonfrequenz entwickelt mit deren Hilfe wir nun zwischen 205 Emotionen differenzieren können statt zwischen 183. Das hat unsere Kommunikation im Schnitt um 2,13 Sekunden beschleunigt“, erklärte er.

„Ja, ich bin mir sicher, das hat die Grundpfeiler eurer Zivilisation erschüttert“, antwortete Riley.

„Wenn ich mich da nicht täusche, handelt es sich hier um Sarkasmus?“, riet der Älteste und sah zu Kumpel hinüber für Bestätigung.

„Ihr werdet ja immer besser im Umgang mit meiner Sprache“, meinte Riley anerkennend. „Während ihr diese Tonfrequenz entwickelt habt, hat meine Spezies gravierende Veränderungen durchgemacht. Globalisierung und Kapitalismus, ja die haben uns das Problem mit den Starbucks-Bechern eingebrockt, aber sie haben auch das Leben von vielen Menschen verbessert. Erkenntnisse über Gesundheit und Medizin, ob ihr es glaubt oder nicht, die meisten Menschen sind noch vor ein paar Jahrhunderten meistens vor ihrer Zeit gestorben. Auf Nexus wurden ungefähr 80 % der Bevölkerung 100 Jahre alt.“

„Ein sehr hohes Alter für Homo Sapiens“, ergänzte Kumpel.

„So viele Krankheiten, die uns seit tausenden Jahren gequält hatten, konnten wir plötzlich heilen, wie Krebs zum Beispiel. Wir haben angefangen unser Gehirn zu entschlüsseln, was wie ein eigenes kleines Universum ist. Anderes Thema, unsere Kommunikation. Ich kann es mir kaum vorstellen, aber auf der Erde hatten sie die längste Zeit keine miteinander vernetzten Computer. Es dauerte teilweise Wochen, um jemandem eine Nachricht zu schicken!“

„Du hast vergessen, die Kriege zu erwähnen“, erinnerte ihn der Älteste.

„Oh ja, darin waren wir gut, leider.“

„Unterdrückung und Ausbeutung. Gegenüber eurer eigenen und gegenüber anderen Spezies, mit denen ihr euch die Erde teiltet.“

„Ja, wir sind Experten darin, andere zu unserem Vorteil vom Schiff zu schmeißen.“

„Nicht zu vergessen, unser zentrales Thema heute; die Zerstörung eurer Heimat. Diese umfasste das aus dem Gleichgewicht gebrachte Klima sowie die Ausrottung von tausenden Tier- und Pflanzenarten, welche unerlässlich für die vielen fragilen Ökosysteme der Erde waren.“

„Ja … die Erde wird vermutlich nie mehr so werden, wie sie mal war. Und daran sind wir schuld.“

„Was sollten wir schon von solch einer Spezies lernen können?“

„Wie man lernt.“

 


14. Selbst-Transzendenz

Riley hatte gelernt, die Welt wieder durch einen anderen Blickwinkel zu betrachten, nachdem seine Tochter geboren worden war. Als Mia angefangen hatte, ihr Territorium zu erobern, war alles für sie neu, spannend und manchmal auch frustrierend gewesen. So viele Dinge, die er irgendwann einfach als gegeben akzeptiert hatte, waren wieder in den Fokus seiner Aufmerksamkeit gerückt, wenn er Mia zugeschaut hatte. Woher kommt das Licht, das sofort aufleuchtet, wenn man den Schalter betätigt? Warum entsteht eine Pflanze, wenn man einen Samen in der Erde vergräbt? Was machen all diese Menschen hier in den Korridoren? Wo gehen sie hin? Warum kann man nicht einfach da bleiben, wo man sein will, sondern muss immer irgendwo hingehen?

In diesem Moment registrierte Riley, dass niemand das Wort ergriff. War es ihm tatsächlich gelungen, den Ältesten zum Schweigen zu bringen? Ob es daran lag, dass er etwas sehr Dummes oder etwas sehr Schlaues gesagt hatte, wusste er nicht. Aber jetzt, da die Kuh aus dem Sack war, konnte er auch ruhig alle Tiere freilassen. „Wenn die Menschheit aus dem Universum verschwindet, wäre das, wie wenn wir Menschen plötzlich aufgehört hätten, Kinder zu bekommen. Ihr seht es doch selbst, es setzt Stillstand ein. Ich denke nicht, dass irgendwas, das lebt, dazu bestimmt ist, in Stillstand zu geraten. Vielleicht braucht ihr uns, eben weil wir noch so jung sind verglichen mit anderen Kulturen im Universum. Nur weil wir blöde sind, können wir so schnell und so viel lernen.“

Kumpels Ohren zuckten wild, der Älteste marschierte auf und ab. Die anderen Wächter könnten genauso gut Statuen sein (wie schon seit Anfang an).

„Deine Spezies soll fortbestehen, weil ihr von geringer Intelligenz seid? Verstehe ich das richtig?“, fragte der Älteste.

„Um Intelligenz geht es nicht, sondern um die Fehler. Wer soll all die Fehler machen, wenn wir nicht mehr da sind?“

„Ich denke, ich begreife es endlich!“, rief Kumpel. „So wie es innerhalb einer Spezies ständig wieder Nachkommen gibt, welche lernen, die Welt neu zu begreifen, gibt es innerhalb des Universums alte und neue Spezies. Die unterschiedlichen Stufen erlauben uns, jeweils andere Dimensionen der Erfahrung >Leben< kennenzulernen. Deswegen hat Riley uns als >abgehoben< bezeichnet. Unsere Stufe ist so hoch oben, dass wir den Zugang zu den meisten anderen verloren haben. Die Menschen könnten uns dieser Spanne an Erfahrungen aber wieder näher bringen. Sie sind eine Spezies, die sich sozusagen an der Schwelle zur Selbst-Transzendenz befindet. Sie haben ein Bewusstsein, aber werden noch von ihrem primitiven Ego zurückgehalten. Wir könnten Zeuge davon werden, wie sie dieses Ego im Laufe ihrer Evolution überwinden. Und wenn wir an die Logik des Lebens glauben, entsteht gerade irgendwo im Universum eine neue Spezies, die ebenfalls auf Level 0 anfängt.“

„Das was er gesagt hat“, gab Riley seinen Segen.

„Ihr habt uns in der Tat sehr viel Stoff zum Nachdenken gegeben“, gestand der Älteste ihnen.

„Und was passiert jetzt?“, wollte Riley wissen.

„Nachdem sie jetzt genügend Input erhalten haben, lassen wir das Volk der Wächter diskutieren“, bestimmte der Älteste und zog einfach ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

„Wo geht er denn hin?“, fragte Riley verwirrt.

„Es wird jetzt wieder ungefähr eine irdische Stunde dauern, bis die Wächter sich ausgetauscht haben. Sie werden warten, bis wir die Halle verlassen haben. Schließlich ist dein Gehör zu empfindlich für einen Diskurs in unserer Sprache.“

„Können wir vielleicht da reingehen?“ Riley deutete auf die Glassäule. Die Idee war ihm spontan gekommen.

„Wenn du nichts kaputtmachst.“

 


15. Das Schnabeltier und der Primat

„Wie gut sind meine Chancen jetzt?“ Riley hatte sich auf einem großen Felsen niedergelassen, Jacke und Krawatte hingen neben ihm auf einem Ast. Das Klima hier drinnen war tropisch, aber es machte ihm nichts aus. Kumpel streckte den Finger aus, als ein Schmetterling herbeigeflattert kam und tatsächlich nutze er ihn als Landebahn.

„Nicht schlecht. Ich habe einige gute Worte, oder besser gesagt Töne, für dich eingelegt.“ Kumpel sprach, während er den Schmetterling mit schiefgelegtem Kopf betrachtete. Riley mochte es, dass Kumpel mindestens so begeistert wie er selbst über dieses kleine Ökosystem schien.

„Du weißt, dass ich mich vorhin in der Pause nicht für deinen Pep-Talk bedankt habe, oder? Zumindest nicht nur. Ich kapier‘ überhaupt nicht, warum du dich so für einen durchschnittlichen Müllsortierer von Nexus Prime einsetzt.“

„Ich mag euch Menschen. Und dich im Besonderen, jetzt, nachdem ich dich kennengelernt habe. Mit dir zu interagieren bringt mir sehr viel Freude.“

„Geht mir auch so“, erwiderte Riley, zutiefst gerührt. Oft hatte er den Eindruck gehabt, er war für Kumpel nur so etwas wie ein Forschungsobjekt, beliebig austauschbar (wenn er nicht der letzte Mensch im Universum wäre).

Der Schmetterling verließ Kumpel und verschwand irgendwo im Dickicht. Jetzt wandte er sich wieder Riley zu. „Egal, wie die Entscheidung ausfällt, ich werde mich darum kümmern, dass du ein angenehmes Leben haben wirst. Wir können mehrere Orte bauen, an denen du dich frei aufhalten kannst. Und wenn du schon nicht dein Vermächtnis an eine neue Generation von Menschen weitergeben kannst, dann wenigstens an uns. Ich bin der Meinung, dass wir viel von deiner Perspektive lernen können.“

„Wenn ich ehrlich bin, macht mir der Gedanke, der letzte Mensch zu sein, der jemals im Universum existiert haben wird, eine Scheißangst. Aber ich denke, mit einem Freund werde ich die ganze Geschichte schon aushalten.“

„Das wäre jetzt so ein Moment, in dem ihr Menschen >anstoßt<, wenn ich mich nicht irre?“

Riley konnte kaum glauben, was er da hörte. „Sag nicht, du hast wirklich Alkohol!“

Doch genau den hatte er. Kumpel klemmte sich zwei kleine Becher aus seiner Schwebebox zwischen die Finger und befüllte sie mit einem mysteriösen Getränk. Als Riley einen der Becher überreicht bekam, erkannte er am Geruch sofort, dass es sich um Schnaps handelte. Er hatte keine Ahnung, wie Kumpel ihn hergestellt hatte, aber es war ihm auch egal.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal zu einem Schnabeltier-Monster sagen würde, aber ich liebe dich“, deklarierte Riley.

„Und ich hätte nie gedacht, dass ich mal mit einem Primaten mit übergroßem präfrontalen Cortex Schnaps anstoßen würde“, erwiderte Kumpel.

Sie ließen die Becher mit einem >Cheers< aneinander klingen und verleibten sich den Alkohol ein. Riley verzog das Gesicht, da er deutlich spürte, wie der Schnaps seine Kehle und Brust hinunterbrannte. Natürlich verzog Kumpel keine Miene. Dann sogen beide für eine Weile schweigend ihre Umgebung ein, bis Kumpel sagte: „Es wird langsam Zeit, uns ihr Urteil anzuhören.“

 


16. Abschließende Gedanken

Ja, das ist wirklich das Ende.

 

Nein, es gibt keine Auflösung.

 

Wahrscheinlich bist du jetzt wütend auf mich. Du warst investiert in das Schicksal von Riley und der gesamten menschlichen Spezies und dann lasse ich dich einfach im Regen stehen. „Warum?“, wirst du rufen, während du dramatisch auf die Knie fällst. Vielleicht fühlst du dich etwas besser, wenn ich dir sage, dass ich nie vorhatte, ein Ende zu schreiben. Daran bist du schuld. Ist dir aufgefallen, dass es in der Geschichte keinen Richter gab? Diese Rolle war nämlich für dich reserviert. Wie fühlst du dich jetzt, nachdem du Argumente für und gegen das Weiterbestehen der Menschheit gelesen hast? Was ist dein Menschenbild? Glaubst du, wir werden die Klimakrise meistern, anders als die Menschen in dieser Geschichte? Haben wir das Potenzial, uns weiterzuentwickeln oder werden wir immer dieselben Fehler machen? Und jetzt, die wichtigste Frage …

 

Wie hättest du in Rileys Fall entschieden? Und warum?

 

Diese Geschichte zu schreiben hat mir sehr viel Spaß gemacht. Eigentlich hatte ich geplant, den Ton etwas ernster zu gestalten, aber das hätte sich nicht richtig angefühlt. Sich mit seinem eigenen Menschenbild zu konfrontieren, muss nicht immer schmerzhaft und anstrengend sein! Ich hoffe, du hattest ebenfalls Spaß beim Lesen und die existenzielle Krise ist nur minimal ausgefallen!


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Dämonifiziert